Alte Familienrezepte
Schweineroulade in Bratenjus
 
                            Auf meinem Schreibtisch, zwischen all den Monitoren, Tabellen und Protokollen, liegt eine alte Karteikarte. Das Papier ist weich und auch ein wenig vergilbt von den vielen Händen, die sie gehalten haben. An den Rändern kann man noch den Schatten eines Bratensaftflecks von vor Jahren erahnen. Darauf das Rezept für Schweinerouladen von meinem Großvater. Meine Aufgabe als Produktentwicklerin ist es, Gerichte zu kreieren, die Menschen berührt. Im Entwicklungslabor riecht es schon nach angebratenen Zwiebeln und Schmoraromen. Mein Team wartet, aber mein Blick bleibt noch genau an dieser Karteikarte hängen. Opas Handschrift. Zwar ein wenig zittrig am Ende, aber bestimmt. Und unter den Zutaten steht der Satz, den er mir als Kind schon eingetrichtert hat: „Immer zuerst der Senf, dann die Zwiebeln!“ Ich höre seine tiefe Stimme noch in meinem Kopf, wie er am Herd stand und mir erklärte, dass der Senf eine leichte Schärfe abgibt und das Fleisch zart macht, bevor die Süße der Zwiebeln dazu kommt. Das war sein Geheimnis. Die Herausforderung ist gewaltig: Wie gießt man das Gefühl von Geborgenheit in eine Rezeptur, die hunderte Male reproduziert werden muss? Wie bewahrt man die Seele eines Gerichts, das aus der Erinnerung lebt? Wir probieren die Füllung. Ich schließe die Augen, „Mehr Pfeffer“, sage ich. „Und der Senf muss grobkörniger sein. Wir brauchen diese leichte Textur.“ Wir braten die Rouladen scharf an, löschen sie ab und lassen sie stundenlang in dem Bratenjus schmoren. Die Soße wird langsam dicker und dunkler. Jeder Löffel, den ich koste, ist eine Reise in die Vergangenheit. Ich sehe den großen Holztisch in Opas Küche, die ganze Familie sitzt zusammen. Ich höre das Lachen und spüre die Wärme. Das ist es, was ich einfangen will. Nicht nur ein Rezept, sondern auch ein Gefühl. Als wir die finale Version probieren, ist alles da. Die zarte Roulade, der kräftige Jus, dazu der leicht herbe Rosenkohl und die einfachen, ehrlichen Salzkartoffeln. Da weiß ich sofort: Wir haben es geschafft. Es schmeckt nach Zuhause. Es schmeckt nach Sonntag. Die Karteikarte lege ich vorsichtig zurück in ihre Schutzhülle. Doch Opas Rezept, sein kleiner wichtiger Grundsatz, lebt jetzt weiter. Auf unzähligen Tellern, bei Menschen, die sich vielleicht nach genau diesem Geschmack sehnen. Den Geschmack von Geborgenheit.

Geschmack ist eine Erinnerung und meine Aufgabe ist es, Erinnerung haltbar zu machen.
 
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